Donnerstag, 7.10.2004
Da sind wir also im Land der Mitte. begrüßen tut uns heftiger Smog, der sich erst am letzten Tag in Beijing auflösen wird. Bis dahin dürfen wir die Schattenseiten des rasanten Wachstums am eigenen Leib erleben und husten nach ein paar Tagen genauso trocken wie Großstadt-Chinesen.
Genauso krank wie die Luft ist der Verkehr. Trotz U-Bahnbau mit Hochdruck (in 4 Jahren zu Olympia muss alles fertig sein…) läuft (oder steht) der meiste Verkehr überirdisch. Fahrradfahrer wuseln wie die Ameisen ständig und erstaunlich flüssig in alle Richtungen. Dazu eine immer riesiger werdende Flotte Privat-Pkw und Taxen sowie Tausende Busse und O-Busse. Normalerweise habe ich kein Problem mit der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel – aber beim Busnetz von Beijing gebe ich auf. Ein PC hat ein unkomplizierteres Leitungsnetz.
Unser Hotel ist ein Relikt aus der „guten alten Zeit“. HaoJuan Binguan steht mitten im Zentrum in einem der letzten hier erhaltenen Hutongs. Von uns als „Hood“-ong umgetauft ist er echt ne kleine, entspannte Neigborhood. Typisch für das alte Beijing waren die Hofhäuser, nach allen Seiten umschlossen mit einem kleinen Flecken Privatgrund in der Mitte. Unser Hotel ist so ein Hofhaus. Im Hof beim Bier sitztend vergisst man sehr schnell, dass sich draussen 15 Millionen Menschen in ständiger Hektik durchs Leben kämpfen. In unserem Viertel gibts ne Menge kleine Essbuden, Frisöre und ne Schule. Aber auch schon ein paar Hochhausklötzer, die sich vom Rand aus ins Viertel fressen und sicher bald alles kleinere verdrängt habe werden.
Trotz eines fast schlaflos Flugs bin ich von der ganzen Atmosphäre wie aufgekratzt und renne mit meinen Kollegen durch die Gegend – der Temple of Heaven ist Ziel unserer touristischen Erkuhndungen und wir lassen den Tag mit Essen im Hood-ong und einigen Bieren ausklingen.
Freitag, 8.10.2004
Keinen Jetlag vortäuschen – rein ins Programm! Vormittags sehen wir die verbotene Stadt. Sehr guter Eindruck davon, wie sich der Kaiser von China von seinen Untertanen hat huldigen lassen. Die armen Schweine haben ihm einen Palast bauen müssen, der für spätere Machthaber echt Maßstäbe gesetzt hat. So hat beispielweise – viel später, gleicher Ort – ein Herr Mao einen Platz nebst Ruhmeshalle und Mausoleum hinsetzen lassen, die ebenfalls beeindrucken sollen und auch tun.
Die erste städtebaulich Überraschung ist dann für mich, dass gleich hinter dem o.g. „Platz des himmlischen Friedens“ (sehr makaberer Name aus historischer Sicht) ein buntes, chaotisches Viertel anfängt, das vor Leben, Essen, Geschäft und Stress nur so flimmert.
Abends haben wir einen Besuchstermin an der Beijing University mit Kollegen. Das Essen im VIP-Bereich der Mensa ist sehr gut die Stimmung eher freundlich reserviert.
Also müssen wir für etwas Leben noch woanders was trinken gehen. Die Sanlitun-Strasse ist ein bemerkenswertes Etwas zwischen kommunistischem Erbe und neu-kapitaslistischem Geschäftssinn. Da kann man ein Bier trinken, dass teurer ist als auf dem Oktoberfest (!) und nebenbei einer chinesischen Pop-Band zuhören oder auch DVD-Raubkopien von fliegenden Händlern erwerben – alles schön bewacht von Volksarmee-Uniformträgern vorm Fenster.
Samstag, 9.10.2004
Wieder steht eines der obligatorischen Beijing-Sightseeing-Highlights an: der Sommerpalast. Ehrlich gesagt hab ich schon genug von Thron-Hallen, geschwungenen Dächern mit Figuren und dem ganzen Zubehör. Jedoch muss ich anerkennen, dass die alten Chinesen auch hier wieder ganze Arbeit geleistet haben. Besonders „schick“ ist eine Strasse (für irgendeine alte, nicht mehr reisefreudige Keisermutter erbaut) die das Flair einer kleinen Hafenstadt versprüht. Disneyland könnte — nee, hat sich sicher ne Menge hier abgeschaut.
Dann haben wir einen Termin an der Xinhua University mit Prof. W. Welch Gegensatz zu gestern! Ich fühle mich wirklich warm begrüßt und willkommen. Wir sitzen in seinem Büro und schlürfen superstarken Tee (zum wiederholten Mal heute – ich bin schon voll auf Teein). Echt stilvoll eingerichtet das Office – da kann sich fast jeder deutsche Prof was abschaun. Dann sehen wir das Wasserbaulabor. Den meisten Platz nehemn zwei übereinander aufgebaute Modelle des Three Gorges Resevoirs ein. Jedes ist wohl 50 m lang. Das Modell mit beweglicher Sohle und simmuliertem Schwebstofftransport ist super aufwändig und wohl überhaupt nur mit chinesischer Manpower zu betreiben. Alles echt beeindruckend und wohl eine gute Einstimmung auf das, was uns noch erwartet. Schließlich zeigen die Chinesen noch, dass sie uns auch in Sachen Medientechnik ein paar Millionen Dollar voraus sind. Der LCD-Screen im Konferenzraum des Instituts würden sich auch auf einem Stadienkonzert gut machen.
Als die wichtigen Delegationsteilnehmer eine Besprechung mit W. beginnen, setzten sich Andreas und ich ab. Natürlich bekommen wir ein paar jüngere Angestellte und seinen Sohn als Begleitung zugewiesen, um
uns ein paar „scenic places“ auf dem Campus anzuschaun. So sehr mir der gepflegte Campus mit dem beeindruckenden Fahrradverkehr auch gefällt – ich habe eine bessere Idee: kaum draussen frage ich eine unserer Begleitungen, ob wir nicht ihr Wohnheim anschaun können. Sie ist natürlich geschockt von dieser Dreistigkeit, findet aber so schnell keine bessere Ausrede, als dass nicht aufgeräumt wäre und außerdem alles sehr klein sein. Wir beschwichtigen sie damit, dass wir auch mal in Wohnheimen gelebt hätten und versuchen den Staatsbesuchs-Status durch betonte Lockerheit loszuwerden. Sie ruft schließlich ihre Mitbewohnerin an und gibt uns – ich bin überrascht über die Offenheit – zu verstehen, dass es noch ein paar „preparations“ bedarf, wir aber nach einem kleinen Umweg ins Wohnheim können. Wowww… so ein Haus hätte ich echt nicht erwartet! Das Heim ist eines mehr als 10 neuen auf dem Campus – geschätzte 30 Stockwerke. Beim Portier werden wir ordnungsgemäß angemeldet, aber das ist bei allen Besuchen in diesem Mädchenwohnheim üblich. Das Zimmer ist vielleicht 6 Quatratmeter groß und sehr schlicht – aber frisch gewischt ;-). Wir schauen uns dezent um und machen Smalltalk bei Sonnenblumenkernen und unseren letzten mitgebrachten Riegeln und Barilla-Keksen.
Abends essen wir in einem tibetanischen Restaurant mit Ethnic Minority Cultural Show .(Ob es das vor ein paar Jahren hier auch schon gab?) Sehr, sehr lecker. Der Yakmilch-Tee erinnert mich prompt an die Mongolei und ich bekomme ein Ich-will-zurück-in-die-Steppe-Gefühl…
Sonntag, 10.10.2004
Heute stehen wir mal wieder um 00:30 (okay: 6:30 Ortszeit) auf und machen uns auf zu einem der wichtigsten Besichtigungspunkte: die Große Mauer. Ich hatte kurz überlegt, zugunsten von ein wenig Schlaf und einem Bier mit den Hash House Harriers darauf zu verzichten, irgendwie konnte ich es dann aber nicht mit meinem touristischen Pflichtbewusstsein vereinbaren. Wenn man einmal ein Beijing ist, muss man die Große Mauer sehen!
Die Stadt ist noch nicht so nah rangewachsen, dass man bequem mit der U-Bahn hinfahren könnte oder so. Also fahren wir zum Busbahnhof und zuckeln mit nem altersschwachen Ikarus Richtung Norden. Außerhalb der vierten (?) Ringstrasse dürfen auch Lkw’s fahren, was dort prompt zum nahezu totalen Verkehrskollaps führt. Von der Endstation fahren wir mit einem nicht-so-offiziellen Taxi weiter bis zur Mauer. Der Fahrer ist echt cool: er bietet Musik an, ich lobe den CD-Player in seinem chinesischen Mittelklasse-Fabrikat. Er erklärt: „VCD“ und ich denke, da muss er wohl ein paar Fachtermini durchenanderbringen. Aber: er klappt die rechte Sonnenblende runter und schon tanzen mir chinesische MTV-look Dancegirls auf nem beeindruckend großen LCD vor der Nase rum.
Der Ort, wo wir die Mauer besteigen, ist noch nicht touristisch erschlossen. Außer ein paar Engländerinnen sind wir die einzigen an diesem Sonntag. Wir zahlen also ausgesprochen günstige 2 Yuan und laufen los. Nach ein paar hundert Metern zahlen wir nochmal 2 Yuan an ein paar Leute, die angeblich die Treppe dort gebaut haben und unterhalten. Okay, soll es halt sein. Dann werden wir nach wenigen Metern von einem kopfschüttelnden Chinesen am weitergehen gehindert und von Mauer runter auf einen Feldweg geleitet – soll wohl heißen, die Mauer sei hier nicht begehbar. Prompt zahlen wir dort – nun schon sehr widerwillig – die nächsten 2 Yuan, da wir nun über den Privatacker einer alten Bäuerin müssen. Etwa 50 Quatratmeter Gestrüpp und Steine – trotzdem dürfe es sich um einen der ertragreichsten Äcker in China handeln. Inzwischen sind wir sehr genervt von diesem neuen chinesischen Geschäftssinn und fragen uns, wieviele Wegelagerer uns wohl noch erwarten werden. Auserdem wollten wir ja eigentlich auf der Mauer laufen und nicht durch chinesische Felder stolpern. Und prompt steht dort, wo wir wieder an die Mauer kommen, der Nächste. Er hat aber ein ganz tolle Überraschung für uns parat: eine Leiter. Denn leider müssen wir an dieser Stelle knapp 3 Meter rauf, um wieder auf die Mauer zu gelangen. Er bietet uns an, für sage und schreibe 25 Yuan seine „Leiter“ (ein Stamm mit 4 draufgenagelten Brettstücken) dafür zu benutzen. Jetzt hab ich echt die Schnauze voll! Da sich weit und breit keine andere Alternative bietet, sind wir also zu Verhandlungen gezwungen. Ich schreie den dreisten Kerl (die beleidigende Wirkung bewusst in Kauf nehmend) auf deutsch an, dass er sich für das Geld beim OBI ’ne vernünftige Aluleiter kaufen kann! Mutig ist der Typ ja. Ich bin fast drei Köfpe größer als er und meine Kollegen sind auch nicht schmächtig. Schließlich einigen wir uns auf die üblichen 2 Yuan pro Person. Als wir dann endlich wieder auf der Mauer stehen, wird uns das ganze Ausmaß der Abzocke bewußt: der Kopfschüttler steckt mit dem Leitermann unter einer Decke! Sie haben sich diese Umleitung ausgedacht und – zugegeben – sehr geschickt arrangiert. Nun schwören wir, uns garantiert nicht mehr auf Zahlungen einzulassen, komme wer wolle. Am nächsten Turm steht eine Alte und will – na rate mal! – nur 2 Yuan fürs Tür öffnen. Ich drohe ihr nur kurz mit den Bullen, entschließe mich dann aufgrund eines Verständigungsproblems zu einer anderen Methode. Mit sanftem Druck geht sie fast freiwillig beiseite und ihr bleibt nur noch, hinter uns her zu zetern.
Alles in Allem hat mir diese moderne Form der Wegelagerei einen guten Teil der Laune versaut. Andererseits bleibt der Tag dadurch auf jeden Fall unvergesslich. Und in Badaling, wo die Tourgruppen über die Mauer getrieben werden, zahlt man schon mehr Eintritt, als wir an alle Wegelagerer zusammen abdrücken mussten.
Abends in Beijing wartet noch ein ganz besonderes Erlebnis auf uns. Silke W. hat Karten für eine Akrobatik-Show besorgt. Eine chinesische Artistentruppe – Durchschnittsalter geschätzte 12 Jahre – zeigt Kunststücke, für die man eigentlich keine Knochen haben darf. Wahnsinn. 12 Mädels auf einem Fahrrad sind selbst in China kein alltäglicher Anblick.
Montag, 11.10.2004
Wer schon mal in China war, besonders wenn er wie ich etwas größer als der Durchschnittsmensch ist, kennt das Problem: Einfach jeder starrt einen an, und mehr als oft genug hört man ein: „You so tall!“
Ich habe beschlossen, offensiv damit umzugehen und mir gestern abend ein T-Shirt drucken lassen. Text (natürlich auf chinesisch): „Ich bin 2,03 m. Foto 5 Yuan.“ Heute, auf unserer Zugfahrt nach Chengdu – dreißigeinhalb Stunden, Hardsleeper – zieh ich es das erste Mal an. Der Effekt ist positiv. Statt mich anzustarren, sind die mir begegnenden Chinesen erst einmal mit lesen beschäftigt. Danach sieht man die Köpfe arbeiten, ob das nun ernst gemeint ist oder was. Auf der Fahrt entwickeln sich daraus ein paar lustige Gespräche und im Nu habe ich den ersten Geschäftsabschluss getätigt. Foto gegen ein chinesisches Abendessen. Wert 10 Yuan. Toll, oder? Damit ist das T-Shirt auf gutem Weg, seine Investitition zu amortisieren.